Die Nacht auf dem Bürgersteig von Wimbledon

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+++ UPDATE 12. Juli: Nachdem ich diesen Artikel zum Wimbledon-Start vor zwei Wochen geschrieben und veröffentlicht hatte, habe ich dem erwähnten alten Kumpel einen Link zum Blog geschickt. Er machte mich zunächst darauf aufmerksam, dass sich dieser England-Trip bereits 1993 zugetragen hatte, also tatsächlich schon vor 31 Jahren. Und dann… schickte er mir per Mail jede Menge Fotos! Eine absolute Zeitreise für mich. Und diese Bilder habe ich jetzt noch inklusive Korrekturen und Ergänzungen im Artikel eingebaut. Es lohnt sich also, nochmal reinzuschauen. +++

Heute startet das ruhmreichste aller Tennisturniere: Wimbledon. Nicht zuletzt durch den sensationellen ersten Triumph von Boris Becker 1985 in dem Londoner Stadtteil ist Wimbledon gerade für mich als früherer leidenschaftlicher Tennisspieler das besonderste der vier Grand Slam Turniere. Und wenn ich richtig gerechnet habe, ist es in diesem Jahr exakt 30 31 Jahre her, dass ich tatsächlich als Besucher live vor Ort war – zum ersten und bislang auch einzigen Mal. Es war ein geradezu unwirkliches Erlebnis und ist bis heute eine wunderbare Erinnerung, die ich anlässlich dieses persönlichen Jubiläums einmal aufschreiben wollte. Kurz vorweg: Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine Smartphones mit Foto-Apps. Es gab Fotoapparate, klar, aber ich wüsste nicht, dass irgendjemand von uns einen dabei gehabt hat. Jedenfalls liegen mir keine Bilder von dem Trip vor, weshalb Ihr diese Story einfach mal so glauben müsst. (Tja, Korrektur: Auf den Fotos ist zu sehen, dass ich sogar meinen eigenen Fotoapparat dabei hatte. Keine Ahnung, wo meine Fotos sind…)

Juni 1994 1993. Ich war zu dem Zeitpunkt seit rund einanderthalb Jahren einem Jahr Student an der Deutschen Sporthochschule in Köln, kurz DSHS oder auch Spoho. Das Renommee der DSHS ist (zurecht) so hoch, dass Sportler aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland zum Studieren nach Köln kommen. Dadurch existieren an der DSHS in der Anfangszeit keine Cliquen, jeder ist erstmal auf sich allein gestellt – und offen für neue Leute. Da man Sport in der Regel mit anderen betreibt und zusammen trainiert, findet man an der Spoho (Spitznamen übrigens: „Deutsche Flirthochschule“ und „Nördlichster Club Mediterranee“) wirklich ultraschnell neue Freunde.

Einer davon war Andi, den ich bereits beim Eignungstest für die Sporthochschule zwei Jahre ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Schon damals erzählte er mir, dass er extra aus England angereist war. Seine Eltern lebten dort seit einigen Jahren, stammten aber ursprünglich aus Frankfurt. Nahezu seine ganze Teenagerzeit hatte Andi in England verbracht, war also quasi zweisprachig aufgewachsen. Andi und ich verbrachten in den ersten Semestern viel Zeit miteinander. Und da er wusste, dass ich leidenschaftlicher Tennisspieler bin, schlug er irgendwann vor, dass wir doch mal nach Wimbledon reisen und bei seinen Eltern schlafen könnten.

Andi in meiner damaligen Studentenwohnung

Eine fantastische Idee, die noch weitere in unserem Umfeld so begeisterte, dass wir ruckzuck eine bunte Reisegruppe von acht Personen waren, die sich aus anderen Sportstudenten, Tennisspielern und Freunden zusammensetzte. Die armen Eltern, muss ich nachträglich sagen. Ich kann mir heute gar nicht vorstellen, dass die so begeistert waren, als ihr Sohn mit einer ganzen Horde unbekannter Neu-Freunde bei ihnen aufschlug. Der Gedanke kam mir damals gar nicht in den Sinn. Natürlich MÜSSEN die sich über uns lustige Truppe freuen! Und wenn nicht: Egal. Hauptsache umsonst pennen. Als junger Mensch ist man ja so egoistisch. Also: Auf nach London! Und nach uns die Sintflut.

The Queue

Wir buchten Flüge, um das mittlere Turnierwochenende zu besuchen. Wohlgemerkt: Ohne irgendwelche Wimbledon-Tickets zu besitzen. „Kaufen wir dort“, erklärte uns Andi, der das ja schon öfters so gemacht hatte. Was? Na, das Anstellen in DER Schlange, „the Queue“ wie der Engländer sie nennt. Dabei reiht man sich am Vorabend(!) in der Schlange für den nächsten Tag ein, übernachtet auf dem Bürgersteig(!!) und holt sich dann am nächsten Morgen seine Eintrittskarten am Schalter. Völlig normal. Laut Andi. Für uns ein riesiges Abenteuer. (Hier ein paar Impressionen aus dem Jahr 1991, die mir Andi geschickt hat.)

Der direkte Eingangsbereich zur Anlage damals.

Ankunft in London am Donnerstag, es müsste der 23. Juni 1994 gewesen sein war der 24. Juni 1993. Andis Eltern wohnten in einem Londoner Vorort in einem großzügigem Landhaus im Grünen, klassischer englischer Stil. Wunderschön. Hier ein älteres Bild, dass mir Andi liebenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat.

Wir schlugen unser Matratzen-Lager in zwei Zimmern des Hauses auf. Der Wimbledon-Besuch war für Samstag geplant, entsprechend das Anstellen am Tag vorher. Nach einem kurzen Stadtbummel durch London am Freitag bereiten wir uns gen Abend für die Nacht vor. Immer wieder tauchte die Frage auf, ob wir auch WIRKLICH Tickets bekommen. Andi beruhigte uns jedes Mal: „Gar kein Problem.“ Wir glaubten es nicht, vertrauten ihm trotzdem.

Mit unseren Rucksäcken brachte uns Andis liebe Mutter am späten Nachmittag mit dem edlen Family-Jaguar (siehe Bild oben) in zwei Touren zum Eingangstor von Wimbledon. Erstes heftiges Kribbeln. Dort gab es zwei Schlangen: Auf der Seite des Eingangstores warteten die Anstehenden noch auf Tickets für den aktuellen Tag, die von Besuchern beim Rausgehen abgegeben und dann erneut günstiger verkauft werden. Auf der anderen Straßenseite sammelten sich alle, die am nächsten Tag auf die Anlage wollten. Dort sortierten wir uns ein. Und warteten.

Irgendwann gingen englische Polizisten unsere Schlange ab und verteilten Zetteln mit Nummern. Wir erhielten zwei Zettel für 2×4 Personen, wenn ich das noch richtig weiß.

Als es anfing zu dämmern, war die Schlange auf der Eingangsseite verschwunden. Es folgte ein Kommando von den Bobbies, dass man jetzt die Seite wechseln dürfte. Völlig ruhig, ohne jegliche Drängelei, bewegten sich hunderte Menschen auf den gegenüberliegenden Bürgersteig, der direkt an der Mauer zur Anlage grenzte. Dort angekommen wurden Absperrgitter zur Straße und zu den Nachbarn aufgestellt. Jetzt hatte man als Gruppe seine fest abgesteckte Parzelle und konnte sein Nachtlager aufbauen.

Das bestand aus mitgebrachten Luftmatratzen, Decken, Schlafsäcken und einer Plane, die man von der Mauer über die Luftmatratzen bis zum Absperrgitter spannen konnte, um sich so gegebenenfalls vor dem Londoner Regen zu schützen. In dieser Nacht blieb es zum Glück weites gehend trocken, nur ein kurzer Schauer machte die Plane nötig.

Als wir uns eingerichtet hatten, ging ich die Menschenreihe nochmal vom Eingang her ab und zählte grob mit. Wir waren ungefähr Nummer 150 in der Schlange. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir Tickets bekommen. 149 Leute vor uns! „Wirklich, gar kein Problem“, sagte Andi. Später sind wir die Schlange weiter nach hinten entlang gelaufen und da wurde mir bewusst, dass wir mit unserer Position gar nicht soooo schlecht da standen. Es war eine irrwitzig lange Schlange von Menschen, die sich die komplette Straße entlang wuselte, um die Ecke rum und noch weiter. Wir sind sie nicht bis ans Ende gegangen. Es war schlichtweg zu weit.

Eine Nacht voller Slang, Gitarre und Beatles

Die Nacht brach an. An Schlaf war nicht zu denken, weil ständig irgendetwas passierte. Schön war auch die kleine Episode direkt am frühen Abend, als unsere englischen Parzellen-Nachbarn mit heftigstem britischen Slang etwas Abfälliges über die „fucking Germans“ nebenan sagten in der Annahme wir fucking Germans würden sie eh nicht verstehen – und Andi sie dann im absolut akzentfreien Englisch ansprach, dass das jetzt nicht so nett gewesen sei. Sie unterhielten sich fortan wirklich extremst leise in ihrer Parzelle.

Ich weiß nicht, ob Ihr schon mal eine komplette Straße voller Open Air Nachtlager gesehen habt… Die Euphorie kickte rein. Es war wie eine riesige Party auf dem Bürgersteig, eine unfassbare Atmosphäre. Es wurde gekocht, erzählt, gelacht getrunken, gespielt, Musik gemacht. Auch wir hatten eine Gitarre dabei. Keine Ahnung, warum wir die mitgenommen hatten und wem sie gehörte. Ich hatte mir erst ein paar Jahre zuvor selbst die ersten Griffe beigebracht und spielte noch nicht wirklich gut. Irgendwann hielten zwei Briten mit ungefähr 3,5 Atü auf dem Kessel bei uns und wollten, dass ich etwas auf der Gitarre spielte. Nach zwei etwas kläglichen Songversuchen, kam mir die zündende Idee: The Beatles! Die kennt dort natürlich jeder und bitte fragt nicht wie, aber nach kurzer Zeit saßen ungefähr 10 bis 15 Briten bei unserer Parzelle und wir grölten alle die ganzen alten Beatles-Schinken rauf und runter. Ich glaube, ich habe ihnen auch noch „Eisgekühlter Bommerlunder“ beigebracht, aber da mag die Erinnerung trügen. Wirklich geschlafen haben wir jedenfalls nicht, keine Chance.

Ein Tennis-Tag in Trance

Der nächste Morgen begann früh um sechs Uhr mit einem überaus freundlichen „Good Morning! Did you sleep well?“ der Bobbies, die als Weckdienst ihre Runde machten. Kurze Zeit später wurden die Absperrgitter abgebaut, und dann kam auch schon wieder Andis Mutter. Sie hielt mit dem schicken Jaguar direkt(!) bei uns am Bürgersteig, packte große Körbe aus, entfaltete auf der Motorhaube eine Picknickdecke und platzierte Teller, Besteck, Brötchen, Marmelade, Käse usw. darauf. Ich werde die Blicke der anderen Anstehenden nie vergessen. Tja. Und dann haben wir erstmal zusammen gefrühstückt. Auf. Der. Motorhaube. Eines. Jaguars. Hatte ich schon erwähnt, dass das alles ein unwirkliches Erlebnis war?

Um circa 9 oder 10 Uhr öffneten die Ticketschalter. Ich war auch aufgrund der Nacht mit den Nerven runter. Wenn wir jetzt doch keine Karten bekommen sollten, müsste ich Andi ja leider umbringen – so lieb seine Mama auch ist. „Ne, echt: gar kein Problem“, sagte Andi unermüdlich. Er guckte dabei so unschuldig und ahnte gar nicht, an welchem seidenen Faden sein Leben in diesem Moment hing, als dieser Wahnsinnige plötzlich vorschlug, dass wir ja jeweils vier Tickets für Court No. 1 (zweitgrößter Platz nach dem Center Court) UND für den Center Court kaufen könnten. So könnten wir doch immer untereinander wechseln, je nachdem wen welche Spieler mehr interessieren. Alter. Ich möchte ÜBERHAUPT IRGENDWELCHE TICKETS, YOU KNOW?! Ich hatte mich jedenfalls emotional schon von meinem Freund verabschiedet, als wir beim Schalter an der Reihe waren. Rest in pea…

Und dann kaufte Andi einfach acht Tickets. Als wäre es nix. Wie im Supermarkt. Welche hätten sie denn gern? Vier für Court No. 1 und vier für den Center Court. Bitteschön. Der Preis? Weiß ich nicht mehr genau, aber in etwa 15 Pfund waren das in etwa pro Ticket (kein Witz) bin ich der Meinung, was damals rund 40 D-Mark gewesen sein müssten. 20 Pfund pro Ticket, also knapp 50 D-Mark damals. (Korrektur: Siehe Tickets unten) Und jetzt kommt’s: Alle Tickets Reihe eins(!!!) für den Court No. 1 und Reihe fünf(!!!!!!!) auf dem Center Court! Unfassbar. Niemals hätte ich mit solchen Plätzen gerechnet. Beim Court No.1 begann der Rasen direkt vor unseren Bäuchen (man saß dort damals etwas tiefer). Komplett irre. Was soll ich sagen? Mister Gar-kein-Problem hatte Recht.

Hier die Original-Tickets von damals, die mir Andi liebenswerter Weise gescannt hat. 20 Pfund – für Row A and E, Ladies and Gentlemen.

Ehrlicherweise muss ich erzählen, dass ich den ganzen Tennis-Tag allerdings mehr wie in Trance erlebt habe. Zu hundemüde war ich nach dieser Nacht. Es tat teilweise richtig weh, wach zu bleiben und die Augen bei den Matches offen zu halten. Ich war nicht der einzige aus der Gruppe, dem es so ging. Darüber hinaus war es an diesem Samstag richtig warm in Wimbledon und wir hatten alle viel zu wenig getrunken. Wenn es damals schon Foto-Handys gegeben hätte, gäbe es wohl jede Menge Bilder von uns, wie wir zu dritt oder zu viert nebeneinander auf einer der Parkbänke der Anlage völlig erschöpft weggeknackt sind.

Boris hat an dem Tag leider nicht gespielt. Steffi und Michael auch nicht (nur trainiert). Ich kann mich nur noch grob an Matches mit Jim Courier und Stefan Edberg erinnern. Schade eigentlich, wenn man vom eigentlichen Event, wegen dem man extra dorthin gereist ist, so wenig Erinnerungen und eben auch keine Fotos mehr hat. (Korrektur! Korrektur! Korrektur! Der Satz hat sich ja nun auch erledigt.)

Aber nach diesem ganzen Abenteuer und dieser besonderen Nacht auf dem Bürgersteig von Wimbledon, die sich dermaßen in mein Hirn eingebrannt hat, muss ich sagen: Gar kein Problem. (Korrektur! Dank den Fotos von Andi jetzt überhaupt kein Problem mehr. Lieben Dank!)